Porträt Tihomir Petrov

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Komisch ohne Chef

Ariane Dettloff-       An einem Sommertag 2003 traf Tihomir Petrov bei der SSM ein. Er ist Bulgare und kam gerade aus Prag, wo er versucht hat, Fuß zu fassen. Das hat nicht recht geklappt, also suchte er im Internet nach Alternativen und stieß auf die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim. Hier gelang es. Nach dem Kennenlernen konnte Tihomir bei der SSM ein „Freiwilliges soziales Jahr“ vermittelt durch die »Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste« (ijgd) absolviert. Dieser gemeinnützige Verein fördert das Verständnis und den Abbau von Vorurteilen zwischen Angehörigen verschiedener Nationen, sozialer Schichten, Religionen und Weltanschauungen.

„Tihomir“ bedeutet „Stille, Frieden“ – irgendwie paßt der Name. Der freundliche Blick aus schwarzen Augen scheint zu signalisieren, dass er in sich, in seiner großen schweren Gestalt, gut aufgehoben ist. Tihomir hatte sich schon in Bulgarien etwas deutsch selbst beigebracht und und hat seitdem sehr viel dazugelernt. Aber er spricht nicht viel. Doch die SSM-Crew kommt gut mit ihm aus. Er packt an, wo das gefragt ist. Er braucht nicht viel, um sich wohlzufühlen. Vor allem: künstlerisches Tun. Nach dem Aufräumen im Lager, dem Spüldienst oder dem Renovieren kann er ungestört auf seiner Bude ausgiebig an Skizzen für Skulpturen arbeiten.
Bildhauer werden – das ist Tihomirs größter Wunsch. Und auch dank der SSM konnte er ihm jetzt ein gutes Stück näherrücken. Hier hat er ein Standbein und er hat bei der Volkshochschule seine Sprachprüfung bestanden - Voraussetzung für die Aufnahme eines Kunststudiums hierzulande. Und seine Bewerbung bei der anthroposophischen Kunsthochschule  in Bonn-Alfter war erfolgreich. Im September geht es los. „Ich kann es kaum erwarten“, strahlt der Sechsundzwanzigjährige. Endlich kann er das tun, was er wirklich, wirklich will. Denn als er auf der Mittwochssitzung fragte, ob es möglich sei, während seines Studiums bei SSM zu wohnen und weiter als Mitglied mitzumachen, wenn auch nicht fulltime, hieß es: „Ja, laß es uns probieren!“

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Bei der SSM, die manche als bedauernswertes „Armutsprojekt“ betrachten, fühlt Tihomir sich bestens aufgehoben: „Ich bin nicht wegen Geld hierher gekommen. Das was ich bekomme, das reicht mir. Ich hab im Moment alles, was ich brauche. Ich hab Zimmer - ich hab im Moment die besten Bedingungen sozusagen bei SSM. In der zweiten Etage, die wir ausgebaut haben.“ An diesem Ausbau hatte er sich tatkräftig beteiligt. Seine handwerklichen Fähigkeiten werden von der Gruppe sehr geschätzt. Und Tihomir schätzt die Gruppe. Sogar an den geistig behinderten Freddie hat er sich gewöhnt. Zu Anfang war er voll befremdet von den zwei behinderten Gruppenmitgliedern: „Wie die aussehen und wie die sich benehmen, das war so komisch für mich.“ – Und heute? - „Heute ist das ganz normal schon. Nix Besonderes. Ich finde eigentlich Freddy sehr nett ab und zu. Aber wenn er schlechte Laune hat und wenn wir etwas zusammen machen müssen, ist es mit ihm sehr stressig. Nach der Arbeit geht es gut. Er ist sehr, sehr lustig.“ - Was sonst noch befremdlich für ihn ist? „Die Kommunikation während der Sitzung ist komisch für mich. Auf der Sitzung ist es ab und zu sehr stressig. Die Leute schreien da... Aber es klappt irgendwie.“ Auch das Essen ist für Tihomir zuweilen „komisch“. Über Heringssalat mit Apfelstücken staunte er enorm: „Wie überhaupt die Leute in Deutschland kochen – diese süße und salzige Sachen zusammen! Wenn ich das in Bulgarien erzähle – die Leute, die lachen sich kaputt.“ - Gab es sonst noch was zum Staunen? - „Kein Chef und so. Das war wirklich sehr interessant. Ich habe vorher noch nie ohne Chef gearbeitet – das war sehr komisch für mich. Ich war daran gewöhnt, dass ich immer jemand fragen mußte: Was soll ich machen? Aber das ist nicht so bei SSM!“